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Marcel Reich-Ranicki. Die Biografie

Leseprobe

1. Kapitel: "Der" Kritiker

Blessing Verlag, 19,99 Euro

„Alles, was ich in diesem Buch beschrieben habe, ist wahr. Aber nicht alles, was ich erlebt habe, habe ich in diesem Buch beschrieben“, bekannte Marcel Reich-Ranicki, als seine Autobiographie Mein Leben erschien. Aus den Gründen dafür machte er kein Geheimnis. „Jeder Autobiograph schont sich selbst, auch wenn er sich das Gegenteil vorgenommen hat. Ich habe auch einiges weggelassen.“ Der Kritiker Reich-Ranicki hatte kein naives, kein leichtgläubiges Verhältnis zur Literatur. Er wollte sich von Schriftstellern nichts vormachen lassen, nicht einmal von sich selbst, sobald er zum Erzähler des eigenen Lebens wurde. Es gibt keine Selbstbeschreibung ohne Selbststilisierung, jede Autobiographie ist zwangsläufig lückenhaft, kein Autor kann sich sicher fühlen vor Streichen, die ihm sein Unbewusstes oder sein Gedächtnis spielen, und Reich-Ranicki wusste das. Er hat Mein Leben nie als das letzte Wort über sein Leben betrachtet.

Ein Biograph ist gewiss nicht klüger als der Autobiograph, aber er hat eine andere Perspektive. Er schreibt aus größerer Distanz und aus der Außensicht, was ihm Vorteile ebenso wie Nachteile verschafft. Das letzte Wort wird auch er nie haben. Reich-Ranicki kannte die Perspektive, aus der das vorliegende Buch geschrieben wurde. Als es 2005 in einer ersten Fassung erschien, war er so großzügig, es zu loben. Er habe, sagte er, darin manches über sein Leben erfahren, „was ich nicht gewusst habe, und manches, womit ich nicht ganz einverstanden war. Gott sei Dank.“ Nach Reich-Ranickis Tod habe ich das Buch nicht nur ergänzt um die Ereignisse seiner letzten Lebensjahre, sondern in allen Teilen gründlich überarbeitet, vervollständigt und aktualisiert. Die Perspektive auf ihn und sein Leben hat sich dabei nicht verändert.

Zu ersten Mal begegnete ich Reich-Ranicki, als ich vierundzwanzig war. Er hatte mich im Herbst 1979 zu einem Vorstellungsgespräch nach Frankfurt eingeladen, eine Stelle in der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sollte neu besetzt werden. Ich studierte damals noch und hatte in den Monaten zuvor eine Handvoll Rezensionen für ihn geschrieben, die er zu meiner Freude tatsächlich veröffentlichte. Natürlich war ich nervös, mit dem Gespräch bot sich mir eine großartige Chance, es gab keinen besseren Platz das journalistische Handwerk zu erlernen als die FAZ. Aber, um ehrlich zu sein, im Grunde hatte ich das Gefühl, alles in allem könne nicht viel schiefgehen für mich. Falls es mit dieser Bewerbung klappte, wunderbar. Falls nicht, wäre das schade, aber ich war jung, vierundzwanzig, irgendwann würde es eine zweite Chance geben.

„Kommen Sie, kommen Sie“, sagte Reich-Ranicki, als er mich eilig in sein Büro winkte, damals knapp sechzig Jahre alt und noch nicht so fernsehbekannt, wie er es später durchs Literarische Quartett werden sollte. Dass ich – der Frankfurter Verkehr! – ein paar Minuten zu spät kam, ließ er mich nicht spüren, wohl aber seine Ungeduld, mehr über meine literarische Bildung zu erfahren. „Keiner kann alles gelesen haben, wir alle haben Lücken“, sagte er auf dem Weg von der Bürotür zu seinem Schreibtisch, „auch ich, auch ich habe Lücken“, und warf sich in seinen Drehsessel: „Welche Autoren kennen Sie? Oder haben Sie die Zeit an der Universität nur vertrödelt?“ Ich zählte auf: Böll, Grass, Frisch, Christa Wolf, Walser, Dürrenmatt, meine frühe Leidenschaft für Heiner Müller fand er kurios, mein Interesse für Peter Handke gerade eben noch verzeihlich.

„Gut, gut, wie steht es mit älteren Schriftstellern, haben Sie schon einmal den Namen Thomas Mann gehört?“ Buddenbrooks, Zauberberg, Doktor Faustus, Tonio Kröger, Felix Krull.

„Mehr nicht?“ Reich-Ranickis Blick wurde düster. „Kleist, haben Sie denn wenigstens was von Kleist gelesen?“ Vermutlich lag es an den tiefen Falten, die sich inzwischen auf Reich-Ranickis Stirn zeigten, wenn meine Antwort nun etwas großräumiger ausfiel, als es den Tatsachen entsprach.

„Alles.“

„Sehr gut. Sie mögen Kleist, sehr gut. Dann erzählen Sie mal etwas über das Käthchen von Heilbronn.

Unglücklicherweise zählte das Käthchen zu jenem Teil von Kleists Werk, um den meine Antwort zu großräumig ausgefallen war. Ich schwieg, ich ließ meinen Blick einen Moment lang auf dem Schreibtisch zwischen uns ruhen, bemühte mich, ein nachdenkliches Gesicht zu machen und sagte dann, unbegreiflicherweise sei mir die Handlung im Augenblick entfallen, eine vorübergehende Gedächtnislücke, ein Blackout.

„Mein Lieber“, sagte Reich-Ranicki, „Sie haben das Käthchen nie gelesen. Als junger Mann wie Sie vergisst man dieses Stück nicht, man vergisst nicht, was Käthchen für den Mann tut, den sie liebt. Besser, Sie bleiben bei der Wahrheit.“

Danach stellte er noch viele Fragen, welche, weiß ich nicht mehr, nur dass ich mit meinen Antworten von nun an streng bei der Wahrheit blieb – und dass ich, als ich wieder zu Hause war, umgehend das Käthchen las. Reich-Ranickis Bemerkung hatte meine Neugier geweckt. Etwas, das er perfekt beherrschte: auf Literatur neugierig zu machen. Ich begriff schnell, was er in unserem Gespräch gemeint hatte: Als das Schloss brennt, geht Käthchen für den Mann, den sie liebt, in die Flammen, sie geht buchstäblich für ihn durchs Feuer, diese Szene vergisst man nicht, das ist richtig.

Später dann, viel später, als ich Reich-Ranickis Autobiographie Mein Leben las, begriff ich noch etwas anderes. Nämlich, dass er gerade vierundzwanzig Jahre alt war, so alt wie ich bei unserem ersten Gespräch, als er das Warschauer Getto und den Holocaust überlebt hatte, und dass seine Frau Tosia und er mehr als einmal für den anderen durchs Feuer gegangen waren. Und mir wurde klar, was für ein unverschämtes Glück es ist, mit vierundzwanzig noch in dem Glauben leben zu dürfen, es könne nicht viel schiefgehen und es warte, falls doch etwas schiefgeht, eine zweite Chance.

Gut zwanzig Jahre nach diesem Bewerbungsgespräch, im Dezember 2001, war Reich-Ranicki auf einem Gipfel von Prominenz und Wirkungsmacht angelangt, den vor ihm kein anderer Kritiker in Deutschland erreicht hatte. Neun Jahre lang hatte ich in seiner Literaturredaktion gearbeitet und obwohl ich danach die Frankfurter Allgemeine verließ, hatten wir uns nicht aus den Augen verloren. Es war ein sehr kalter Tag in Berlin, wir waren am Gendarmenmarkt verabredet. Reich-Ranicki wohnte dort in einem Hotel mit Blick auf den Deutschen Dom und das ehemalige Schauspielhaus, dem er die großen Theatererlebnisse seiner Jugend verdankte. Er war, als er durch die Lobby auf mich zueilte, ein wenig ungeduldig wie so oft. Die Begrüßung fiel kurz und geschäftsmäßig aus, dann wollte er weiter, dirigierte mich zurück in die Kälte, zum nächsten Taxi.

„Sie kenn ich ausm Fernsehn.“ Der Taxifahrer musterte im Rückspiegel den Mann, der sich auf den hinteren Sitz seines Wagens hatte fallen lassen. Er zögerte einen Moment, drehte sich um, studierte das Gesicht seines Fahrgasts und ließ Sendungen, Serien, Shows an seinem inneren Auge vorüberziehen. Für mich auf dem Nebensitz hatte er keinen Blick. Dann hellte sich sein Gesicht auf. „Ja“, brummt er und nickt zufrieden, „Sie sind der Kritiker.“ Drehte sich wieder nach vorn, gab kein weiteres Wort von sich und fuhr uns zu der gewünschten Adresse.

Nicht: „ein“ Kritiker hatte er gesagt. Auch nicht: „dieser“ Kritiker. Sondern: „der Kritiker“. Wenn die Kritik, die in Deutschland traditionell zu den missverstandenen und oft ungeliebten Institutionen zählte, nach dem Zweiten Weltkrieg in diesem Land ein neues, anderes Image bekam, dann ist das nicht zuletzt ein Verdienst Reich-Ranickis. Ihm ist gelungen, was hierzulande zuvor undenkbar schien: Er hat die Kritik zu einem vom Publikum gespannt verfolgten, nicht selten bewunderten und in vollen Zügen genossenen Schauspiel gemacht. Er hat die Debatte über Literatur – also über so luftige, schwer fassbare Fragen wie die, ob der Roman X des Autors Y gelungen genannte werden dürfe oder nicht – konsequent popularisiert. Er hat den öffentlichen Streit über Bücher aus den Zirkeln der Fachleute, Akademiker und Intellektuellen herausgeführt und zu den gewöhnlichen Lesern gebracht, und das in Zeiten, in denen der Literatur gebetsmühlenhaft nachgesagt wird, sie sei im Begriff, alle Ausstrahlungskraft einzubüßen.

Zum Zeitpunkt jener Berliner Taxifahrt kannte ihn nahezu jeder Fernsehzuschauer, also: nahezu jeder. Schon als Literaturkritiker der Zeit und als Chef der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war Reich-Ranicki zu einer beherrschenden, den Kulturbetrieb zuverlässig polarisierenden Gestalt herangewachsen. Mit einer kaum noch überschaubaren Zahl von Sammel- und Essaybänden, Monographien und Anthologien, Reden und bücherfüllenden Gesprächen manifestierte er über Jahrzehnte hinweg seinen Anspruch auf eine umfassende literaturkritische Zuständigkeit. Und mit dem von ihm konzipierten und dominierten Literarischen Quartett begann schließlich in den neunziger Jahren seine Karriere zum Popstar der Kritik. Er krönte sie 1999 mit seiner Autobiographie Mein Leben, die bislang fast anderthalb Millionen Käufer fand und ihn zu einem der meistgelesenen deutschen Autoren jener Jahre machte.

Wenn also der damals amtierende Bundespräsident Johannes Rau im Dezember 2001 vorschlug, die Abschiedssendung des Literarischen Quartetts in seinen Berliner Amtssitz zu verlegen – und unsere gemeinsame Taxifahrt deshalb vom Gendarmenmarkt durchs kältestarre Berlin zum Schloss Bellevue führte –, dann war das zweifellos in erster Linie als politische Geste zu verstehen. Dreiundsechzig Jahre nachdem der Jude Marcel Reich achtzehnjährig von den Nationalsozialisten aus Berlin deportiert worden war, bereitete ihm das politische Oberhaupt Deutschlands nun in ebendieser Stadt die ganz große Bühne für einen landesweit beachteten, im Literaturbetrieb noch nie dagewesenen Auftritt als Kritiker und Literaturentertainer: Das war eine öffentliche Verbeugung vor der nicht nur beruflichen Lebensleistung Reich-Ranickis. Sie sollte sich in vielleicht noch eindringlicherer Form wiederholen, als Reich-Ranicki anlässlich des Holocaustgedenktages im Januar 2012 gebeten wurde, vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen.

Aber andererseits war die Einladung durch Bundespräsidenten Rau auch als ein geschickter Schachzug eines auf Öffentlichkeitswirkung bedachten Politikers zu verstehen. PR-Fachleute sprechen in solchen Fällen von positivem Imagetransfer: Der gelernte Buchhändler Johannes Rau wollte einen Abend lang an jenem kulturellen Ansehen teilhaben, das Reich-Ranicki landesweit genoss, wollte sich als Politiker vorteilhaft mit ins Bild setzen, wenn die Kameras den großen Schlussapplaus 
für das Quartett einfingen. Wann hat es so etwas je gegeben: Der höchste Repräsentant des Landes und ein Literaturkritiker präsentieren sich der Öffentlichkeit und es ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, der Kritiker könnte der Prominentere von beiden sein.

Selbstverständlich ist die Versuchung groß, Reich-Ranickis unbeirrbaren Aufstieg zum mächtigsten Mann des deutschen Literaturbetriebs biographisch durch sein Schicksal erklären zu wollen, durch seine Erfahrung, ohnmächtiges Opfer von Deportation und Verfolgung gewesen zu sein. Fünf Jahre musste er im Warschauer Getto und auf der Flucht vor den Nationalsozialisten tagtäglich mit seiner Ermordung rechnen – seine Eltern, sein Bruder und die Eltern seiner Frau Teofila, genannt Tosia, überlebten den Holocaust nicht. Derartige Erlebnisse erschüttern einen Menschen bis in den Kern der Persönlichkeit. Kein Zweifel, Reich-Ranicki war, auch wenn er selten darüber sprach, tief geprägt durch die Zeit, in der er Freiwild war für Rassisten in deutschen Uniformen. Sein Leben lang wählte er in jedem Restaurant oder Café seinen Sitzplatz so, dass er die Eingangstür im Blick hatte – wie in den Jahren, in denen er mit möglichen Razzien rechnen musste. Seine Leidenschaft gehörte bis zu seinem Tod den jeweils neuesten Nachrichten – wie in der Zeit, in der er als Mitarbeiter der Warschauer Gettoverwaltung lernen musste, dass von verlässlichen Informationen das Überleben abhängen kann. Er rasierte sich bis in sein hohes Alter zweimal täglich – wie in jenen Tagen, in denen deutschen Soldaten schon ein Bartschatten ausreichte, um einen Juden im Getto als heruntergekommen auszusondern und den Transporten zuzuteilen, die im Gas endeten.

Reich-Ranicki hat, was ihm niemand hätte verübeln können, nicht endgültig mit den Deutschen gebrochen, sondern sie sein Leben lang an ihre Kultur erinnert. Er hat ihnen als Maßstab die eigene Literatur vor Augen gehalten, deren klassischer Höhepunkt eine Feier der Humanität war, eine Feier der Menschlichkeit. Es ist nicht leicht, die Größe dieser Geste angemessen in Worte zu fassen. Sicher, er hat den größten Teil seiner Zeit damit verbracht, Bücher zu lesen, um über sie zu schreiben. Und sich dann genussvoll mit anderen Menschen gestritten, die ebenfalls Bücher lesen, um über sie zu schreiben. Aber letztlich ging es ihm dabei nicht nur um die Literatur. Sondern auch darum, der größtmöglichen Öffentlichkeit wieder und wieder etwas ins Gedächtnis zu rufen, was in diesem Land zwölf fatale Jahre lang verschüttet gewesen was und das in den besten Werken der Literatur bewahrt wird: ein Bewusstsein für Toleranz, Weltoffenheit, Gerechtigkeit, kurz: für Kultur.

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